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Title
Pseudoisidor und das Papsttum. Funktion und Bedeutung des apostolischen Stuhls in den pseudoisidorischen Fälschungen


Author(s)
Harder, Clara
Series
Papsttum im mittelalterlichen Europa 2
Published
Köln 2014: Böhlau Verlag
Extent
Price
€ 39,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Lotte Kéry, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Hinter dem Namen „Pseudoisidor“ verbirgt sich eine Gruppe kirchenrechtlicher Sammlungen, die nach ihrem umfangreichsten Teil, den pseudoisidorischen Dekretalen, als „Pseudoisidorische Fälschungen“ bezeichnet wird, obwohl sie auch authentische Stücke enthält. Zu dieser Gruppe gehören auch die Collectio Hispana Gallica Augustodunensis, eine Ableitung der Collectio Hispana, die Capitula Angilramni, eine vergleichsweise kurze Sammlung von Rechtssätzen, in deren Mittelpunkt der Schutz der Kleriker und speziell der Bischöfe vor Gericht steht, und schließlich die Kapitulariensammlung des sogenannten Benedictus Levita, die sich als Fortsetzung der echten Kapitulariensammlung des Ansegis von Fontenelle (†833) ausgibt. Der Name Pseudoisidor geht auf den angeblichen Autor der Sammlung zurück, der sich als „Isidorus Mercator“ vorstellt und (irrtümlich) mit Isidor von Sevilla (†636) in Verbindung gebracht wurde. Die Forschungen zu Pseudoisidor sind zuletzt wieder in Bewegung geraten, nachdem Klaus Zechiel-Eckes aufgrund kodikologischer und paläographischer Beobachtungen zu dem Schluss kam, dass dieses umfangreiche Konvolut im Kloster Corbie (bei Amiens) und unter maßgeblicher Beteiligung des dort in den 840er-Jahren wirkenden Abtes Radbert (Paschasius Radbertus) entstanden sei. Zechiel-Eckes wies zudem nach, dass es sich bei den Excerptiones de gestis Chalcedonensis concilii um ebenfalls in der pseudoisidorischen Werkstatt gefertigte Exzerpte aus den Akten des vierten ökumenischen Konzils von Chalkedon (451) handelt.1

Dies ist mit Ausnahme der Collectio Hispana Gallica Augustodunensis zugleich die Grundlage, auf der Clara Harder im Lichte der neuen Erkenntnisse ihres 2010 verstorbenen Lehrers der Frage nachgeht, welche „Funktion und Bedeutung“ dem apostolischen Stuhl bei Pseudoisidor zukommt. Als Problem dieser Arbeit – von der Verfasserin selbst ausführlich erläutert – stellt sich die sehr umfangreiche und gleichzeitig nicht ausreichend gesicherte Textgrundlage des umfangreichen Fälschungscorpus dar, dessen Handschriftenklassen bisher nicht in eine chronologische Ordnung gebracht werden konnten, das nur ansatzweise kritisch ediert ist2 und dessen „Entstehungsreihenfolge“ bisher nicht eindeutig rekonstruiert werden konnte (vgl. S. 16f.).

Die ältere Forschung – zuletzt repräsentiert durch Horst Fuhrmann3 – vertrat die Ansicht, dass ein Hauptzweck der Fälschung darin bestand, die Bischöfe vor dem Zugriff ihrer Metropoliten und der weltlichen Machthaber zu schützen, und dass dazu unter anderem auch die Jurisdiktionsgewalt des Papstes in erheblichem Maße gestärkt wurde, was unweigerlich, wenn auch eher indirekt, die Ausbildung des römischen Primats deutlich gefördert habe. Dem gegenüber steht in der vorliegenden Arbeit „die Frage im Vordergrund, ob die These vom Papst als Mittel zum Zweck bei Pseudoisidor einer kritischen Textanalyse standhalten kann“(S. 15). Dazu soll nicht nur nach dem Ursprung der pseudoisidorischen Vorstellungen zum päpstlichen Primat gefragt werden (S. 16), sondern es sollen auch Anhaltspunkte für eine Beschreibung der „inneren Zusammenhängen zwischen den einzelnen Fälschungsteilen und ihren Vorlagen“ (ebd.) werden. Ziel der Arbeit sei es, „einen Einblick in die (kirchen-)politische Motivation der Fälscher“ (ebd.) und damit auch Hinweise auf die Entstehung der Fälschungen zu gewinnen. Das am Ende formulierte Ergebnis, dass „Radbert von Corbie und andere Mitglieder des fränkischen Klerus den Papst nicht nur als Schutzinstanz für den Episkopat, sondern als das eigentliche Haupt der Kirche ansahen, welchem die Führung der Kirche in Fragen der Lehre und der Jurisdiktion zustand“ (S. 226), lässt sich jedoch nur schwer in dieser Absolutheit belegen oder nachvollziehen. Unbestreitbar ist jedoch, dass erst mit den pseudoisidorischen Dekretalen, wie Harder schon in einem einführenden Kapitel über das „Papsttum in der politischen Theologie des Frankenreichs“ (Kap. 1.1) nahe legt, in einer bisher nicht gekannten Weise neue Texte erfunden und ältere umformuliert wurden, um dem apostolischen Stuhl größere Kompetenzen zuzuerkennen, wie etwa, dass Konzilsbeschlüsse nur mit päpstlicher Genehmigung gültig sein sollten. Ihre Einordnung des für ihre Untersuchung zentralen Begriffs der „Dekretalen“ beruht jedoch offenkundig auf einem Missverständnis4, wenn sie behauptet, die Forschung subsumiere „alle (!) päpstlichen Schreiben (spätestens) ab dem 9. Jahrhundert unter dem Begriff ‚Dekretale‘“ (S. 23). Dies führt auch zu weiteren folgenschweren Missverständnissen, wie etwa zu der auf den Papstregesten von Jaffé beruhenden Aussage, dass von Gregor IV. „nur“ (S. 181, Anm. 2) 17 Dekretalen überliefert seien !5

Die These, dass Paschasius Radbertus „Pseudoisidor“ und seine Beteiligung an der Komposition der falschen Dekretalen aus mehreren Gründen „wahrscheinlich, wenn auch nicht zweifelsfrei nachzuweisen“ (S. 93) sei, werde dadurch untermauert, dass „Radbert neben Pseudoisidor der einzige Autor im Frankenreich“ (ebd.) sei, „der im Nachklang der Ereignisse der 830er-Jahre offensiv die päpstliche Autorität beschwor“ (ebd.). Zur Begründung führt die Verfasserin eine Textstelle aus dem von Radbert verfassten Epitaphium Arsenii an, wonach die Mönche von Corbie Papst Gregor IV. angeblich eine „patristische Sammlung“ (? – so S. 87) übergaben6, um ihn gegen die Vorwürfe der kaisertreuen Bischöfe zu stärken eine – Passage, die auch schon von der älteren Forschung als Hinweis auf eine Vorform der pseudoisidorischen Fälschungen gedeutet wurde.

In den vier zentralen Kapiteln ihrer Untersuchung arbeitet die Verfasserin die Stellung des Papstes in den verschiedenen pseudoisidorischen Werken heraus, wobei die falschen Dekretalen – wie im Fazit dieses Teils der Arbeit festgehalten wird – „den Befugnissen des römischen Bischofs am weitreichendsten und am differenziertesten Ausdruck“ (S. 143) verleihen. „Die falschen Kapitulariensammlungen, die Capitula Angilramni und die Kapitularien des Benedictus Levita, bleiben deutlich dahinter zurück.“ (ebd.)

Für die Fragestellung der Arbeit besonders ergiebig ist das Kapitel 2.5 über Vorlagen und Arbeitstechniken Pseudoisidors, da anhand zielgerichteter Textveränderungen wohl am besten zu erkennen ist, welche Ziele die Fälscher verfolgten. Hier wird unter anderem gezeigt, wie Bibelzitate ohne auffällige Textveränderungen durch eine geschickte Kombination mit entsprechenden „Bausteinen aus anderen Quellen“ (S. 120) zur Grundlage für den Anspruch des römischen Bischofs auf die „oberste Jurisdiktionsgewalt in der Kirche“ (ebd.) werden, mit echten Papstbriefen Innocenz‘ I. die Machtverschiebung der innerkirchlichen Hierarchie zugunsten der Bischöfe mithilfe des Papstes konstruiert wird (S. 124) und Auszüge aus Briefen Leos I. so umgestaltet werden, dass nun alle causae maiores, „wozu er ausdrücklich Angelegenheiten der Bischöfe zählt“ (S. 125), in die Kompetenz des apostolischen Stuhls fallen. Bei der Übersetzung des Zitates aus Pseudo-Melchiades (vgl. S. 125, Anm. 134) wurde jedoch übersehen, dass die Bischöfe nicht nur von der sedes principis apostolorum Petri „die Endurteile empfangen“ (S.125), sondern auch ihre Einsetzung. Beides wird sogar ausdrücklich aufeinander bezogen. Man erfährt nur, dass Pseudoisidor sich „mit dieser absoluten Abhängigkeit der Bischöfe von Rom […] weit von seiner Vorlage entfernt“ (S. 125) habe. In einer anderen von Harder zitierten Textpassage aus Pseudo-Anaklet heißt es nicht, dass der römische Primat „von den Aposteln und Gott abhängig“ (S. 128f.) sei, sondern dass die heilige römische und apostolische Kirche nicht von den Aposteln, sondern „von unserem Herrn Erlöser selbst“ den höchsten Vorrang erhielt7, auch wenn tatsächlich die ,Synoden‘ im Nicäa-Originaltext durch die ,Apostel‘ im Text Pseudo-Anaklets ersetzt wurden. Von den Aposteln als „Autoritätsquelle“ (S. 130) ist jedoch hier nicht die Rede.

Am Ende der Untersuchung „spekuliert“ (S. 218) Harder, wie sie selbst betont, noch einmal über die Entstehung der Falsifikate, um „die nach wie vor ungelösten Fragen der Pseudoisidor-Forschung zusammenzufassen, mögliche Erklärungen für diese zu liefern und Ansätze für weitergehende Forschungen aufzuzeigen“ (ebd.). Als konkretes Ergebnis ihrer Untersuchungen erkennt sie eine „pseudoisidorische Wende“ im Verhalten des fränkischen Klerus, der sich nun – angeregt durch die Herausstellung des römischen Primats in den Fälschungen – stärker an der römischen Autorität orientiert habe, auch wenn die Durchsetzungskraft päpstlicher Beschlüsse noch von Fall zu Fall geschwankt habe (S. 223). Ob die Erklärung der älteren Forschung, dass es Pseudoisidor mit seinen Aussagen zum römischen Primat vor allem um die Unterstützung des Episkopats gegenüber den Metropoliten und weltlichen Machthabern gegangen sei, damit tatsächlich widerlegt ist? Bereits in der Einleitung weist sie selbst vorsichtshalber darauf hin, dass es nicht Ziel ihrer Arbeit sei, die in der Forschung stets herausgestrichene Bedeutung des Episkopats in den Fälschungen zu bestreiten (S. 19).

Der Gewinn der vorliegenden Arbeit besteht darin, die in den verschiedenen Teilen des Fälschungswerkes betonten Aspekte des römischen Primats auf dem neuesten Forschungsstand mit einem frischen Blick auf diese Texte und ihre Vorlagen herausgearbeitet und in einer gut lesbaren Darstellung eingeordnet zu haben. Gerade auch wegen der hier nur beispielhaft erwähnten Unsicherheiten wäre es jedoch wünschenswert gewesen, dem Leser die Schlussfolgerungen auch konkret an den Texten nachvollziehbar zu machen, wie es etwa für die Verwendung authentischer Dekretalen und der Historia Tripartita des Cassiodor bei Benedictus Levita (Kap. 4.3.2 und 4.3.3.) geschieht. Einen ersten Schritt stellen die Tabellen im Anhang dar, die nicht nur die besprochenen Textpassagen mit ihren Vorlagen verzeichnen, sondern auch ihre Parallelen in anderen pseudoisidorischen Dekretalen, in den Capitula Angilramni und bei Benedictus Levita und damit Verbindungen zwischen den einzelnen Fälschungsteilen dokumentieren. Ärgerlich sind die zahlreichen Fehler und Versehen..8

Anmerkungen:
1 Vgl. Klaus Zechiel-Eckes, Verecundus oder Pseudo-Isidor? Zur Genese der Excerptiones de gestis Chalcedonensis concilii, in: DA 56 (2000) S. 413–446.
2 Für die Capitula Angilramni liegt eine kritische Edition von Karl-Georg Schon vor (MGH Studien und Texte 39, 2006). Die Kapitulariensammlung des Benedictus Levita ist in der von Gerhard Schmitz vorgelegten kritischen Edition als work in progress auf der Internet-Seite der MGH zugänglich: www.benedictus.mgh.de/edition/edition.htm (15.12.2015).
3 Vgl. Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen, 3 Bde., Stuttgart 1972–1974 (Schriften der MGH 24,1–3).
4 Vgl. dazu Detlev Jasper, The Beginning of the Decretal Tradition. Papal Letters from the Origin of the Genre through the Pontificate of Stephen V, in: History of Medieval Canon Law, ed. by Wilfried Hartmann and Kenneth Pennington, Washington 2001, S. 1–133, S. 13 (wörtliches Zitat der Definition von Charles Duggan). Missverstanden wurde hier wohl die Feststellung von Jasper: „By the ninth century every papal letter (!) could (!) be classed as an ‚epistola decretalis‘“ (S. 20, Anm. 74). Die von Harder nur mit Kurztitel zitierte ältere Arbeit (1922) von Getzeny fehlt im Literaturverzeichnis.
5 Von Gregor IV. sind bei Jaffé 18 mit Nummern versehene Einträge verzeichnet, darunter eine ganze Reihe von Privilegienbestätigungen, aber auch Briefe, die jedoch nicht als Dekretalen überliefert sind. Als Dekretale kommt eigentlich nur JE †2579 in Frage.
6 Im lateinischen Zitat (Anm. 282) heißt es, man habe dem Papst einige durch die Autorität der heiligen Väter bestätigte Schreiben (conscripta) seiner Vorgänger überreicht, denen niemand widersprechen könne, weil sie aus seiner Amtsgewalt hervorgingen (quod eius esset potestas).
7 Vgl. S. 129, Anm. 148: Haec vero sacrosancta Romana et apostolica ecclesia non ab apostolis, sed ab ipso domino salvatore nostro primatum obtinuit, […]. (eigene Übersetzung)
8 Um nur einige zu nennen: „der päpstlichen Nichtjustizierbarkeit“ (S. 57); „Die Constitutio Romana […] wurde als Ausdruck (!) der Kaiser interpretiert, die fränkische Kontrolle über Rom zu verstärken.“ (S. 43); „prima sedis“ (S. 146); „tauchten erstmals seit 833 844 (?) wieder auf“ (S. 221); c. 3 von Sardika in Anm. 158 (S. 131): „obaverit“ statt „probauerit“, „confirmatur erunt“ statt „confirmata erunt“, „scribatur vel ab his episcopis“ statt „scribatur uel ab his qui examinarunt uel ab his episcopis“; reliquorum clericorum wird mit „kleinerer (!) Geistlicher“ übersetzt (S. 133, Anm. 165);Brevatio (!) canonum (ebd. Anm. 43, ebenso S. 230); Adalhard war nicht seit 771 Abt von Corbie, sondern seit 780 (S. 84), die Kapitularienedition von Étienne (nicht Stephan) Baluze erschien 1677 (Baluze starb 1718), die hier zitierte Ausgabe von 1780, die der Mansi-Ausgabe zugrundeliegt, ist eine Neuedition.

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